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Full text of "Leipziger Chronik 1989 • Teil 1 von 4 Teilen • Organisierter Widerstand in der "DDR""

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»Ost-West-Diskussionsforum« Nr. 6 



April 1989 



LeipzigerChronik 

Unter dem Titel »Die Mucke« haben Mitarbeiter der 
Arbeitsgruppe Menschenrechte und des Arbeitskrei- 
ses Gerechtigkeit in Leipzig eine umfangreiche 
Dokumentatiori ijber ihre Arbeit im letzten Jahr (seit 
Februar 1988 bis zur Freilassung der im Januar Ver- 
hafteten) zusammengestellt. Diese Dokumentatiori 
schildert in aller Ausfuhrlichkeit die Entwicklung der 
Arbeit der unabhangigen Gruppen in Leipzig, ihre 
Konfiikte mit dem Repressionsapparat des Staates, 

Vorwort 



„ Was war Jos in Leipzig? " So fragte 
nicht nur die oJunge Welt« am 17. 
Januar, sondern auch all jene, fur die 
Versammlungs-, Meinungs-, Presse- 
und Vereinigungsfreiheit zu einer 
demokratischen Gesellschaft geho- 
ren. Was in Leipzig los war, soU hier in 
Form einer Chronik des letzten Jahres 
und als Bericht iiber die wohl grol^te 
Solidarisierungswelle nach einem 
„Ereignis" aufierhalb von Berlin, die 
die DDR seit Jahren eriebte, vorgelegt 
werden. 

Welche (kirchen-)politischen Bemii- 
hungen zur Beilegung des Konfliktes 
fiihrten, ist schwrer zu beurteilen, weil 
nach dem gegenwartigen Informa- 
tionsstand schwer zu unterscheiden 
ist, was Geriicht, was gezielte Fehlin- 
formation und was durch Indiskretion 
offentlich Gewordenes ist. Dies kon- 
nen die Verfasser, schon weil ein prin- 
zipielles Mifltrauen von seiten des 
Staates und der Kirchenleitung ihnen 
gegeniiber besteht, zum jetzigen Zeit- 
punkt nicht leisten. Weder den Betrof- 
fenen noch ihren Freunden wurden 
die Hintergrunde fiir die Einstellung 
der Ermittlungsverfahren nach § 25 
der StPO mitgeteilt. 

Einige dieser „Informationen" wol- 
len wir hier jedoch hervorheben, ohne 
ihren Wahrheitsgehalt wirklich iiber- 



priifen zu konnen. Kampfgruppenmit- 
glieder in ZivU, die gegen die Demon- 
stranten vom 15. 1. vorgehen sollten, 
soUen - irritiert durch die Teilnahme 
von Eltern mit Kindern — Befehle nicht 
befolgt und einen von der Auflosung 
der Demonstration geplanten Ring um 
die Demonstranten nicht geschlossen 
haben, so daB es nur zu einer Blockade 
durch Bereitschaftspolizei kam. Ande- 
re soUen — im Nachhinein dariiber 
gefragt, wie sie in Zukunft handein 
wurden - ihren Unmut iiber das Vor- 
gehen gegen friedliche Demonstran- 
ten geauBert haben. Fiinfundsechzig 
Austritte und Ausschliisse aus den 
Kampfgruppen sollen die Folge gewe- 
sen sein. Am 18.1. soil es eine Sitzung 
der Bezirksleitung der SED gegeben 
haben, bei der auch der 1 . Sekretar der 
Bezirksleitung der SED in Dresden, 
Modrow, und 2 Politbiiromitglieder 
anwesend waren, die die Verhaftun- 
gen als nicht im Interesse der SED 
bezeichneten. Die Staatssicherheit 
soil jedoch die Ereignisse in Leipzig 
zum AnlaB zu nehmen versucht 
haben, gegen die gesamte Friedens- 
und Biirgerrechtsbewegung der DDR 
vorzugehen, wofiir zumindest die Vor- 
ladungen „zv\;ecks Klarung eines 
Sachverhaltes " vom 16.1. ein Indiz lie- 
fern. Und schlieBlich soil der Staats- 
ratsvorsitzende Erich Honecker nach 
einem Gesprach mit dem schwedi- 



sowie ihre Diskussionen mit der Kirchenleitung. 
Wegen des Umfangs der Dokumentation sehen wir 
uns leider gezwungen, diese in zwei Teilen zu verof- 
fentlichen. 

Eine Reihe in der Dokumentation nochmals publi- 
zierter Texte sind bereits im »Ost-West-Diskussions- 
forum« veroffentlicht worden. in diesen Fallen ver- 
weisen wir nur auf die entsprechende Veroffentli- 
chung. -g.k.b- 

schen Ministerprasidenten L Carlsson 
am 24. 1. personlich die Einstellung 
der Ermittlungsverfahren angeordnet 
haben. 



I. „Was war los in Leipzig? 
EINE CHRONIK 



jj 



13. 2. '88 

In einem Meditationsgottesdienst 
mit anschlieBender Vorstellung von 
Leipziger Basisgruppen und Benefiz- 
konzert in der Michaeliskirche wird 
iiber Perspektiveri der Arbeit der 
Gruppen nach den Vorgangen um die 
Luxemburg-Liebknecht-Demonstra- 
tion 1988 nachgedacht. 

19.2. '88 

Vor etwa 900 Ausreise-Antragstel- 
lern spricht Pfarrer Fiihrer in der Niko- 
laikirche iiber „Leben und Bleiben in 
der DDR". DaB ein Abend zu diesem 
Thema in einer Kirche stattfindet, 
wird von den Ausreise-Antragstellern 
als endgiiltiges Zeichen der Kirche zur 
Hilfe fur ihr Problem (mifi-)verstanden. 
Im AnschluB an den Vortrag stellten 

8 



sich die Antragsteller Manfred Hart- 
mann, Frank Wolfgang Sonntag, Dr. 
Steffen Kind und Dr. Michael Kunze 
(alle sind Mitarbeiter der nArbeits- 
gruppe Ausreise des Arbeitskreises 
GerechtigkeitH und des Gesprachs- 
kreises um Jugendpfarrer Kaden) als 
Kontaktpersonen zur Ausreiseproble- 
matik vor. 

AuBerdem wird eine Eingabe an 
den RechtsausschuB der Volkskam- 
mer verteilt. Darin wird die Verwun- 
derung zum Ausdruck gebracht, daB 
man/frau sich offensichtlich „landes- 
verraterischer Beziehungen " schuldig 
machen mufi, um die DDR ziigig ver- 
lassen zu konnen. Gleichzeitig wird 
um erne klare gesetzliche Regelung 
gebeten, die sich an internationalen 



Da zum einen die Aktivitaten der 
Leipziger Gruppen nicht so im Blick- 
punkt der Offentlichkeit standen und 
zum anderen, um die Entv/icklung 
zum 15. 1. und den Kontext der Ereig- 
nisse aufzuzeigen, halten wir es fiir 
notig, mit einer Chronik des letzten 
Jahres zu beginnen. Diese Chronik ist 
sicher unvollstandig. Auch die Solida- 
ritatsbekundungen konnten wir nicht 
alle erwahnen; zum einen, weil uns 
sicher manches unbekannt blieb und 
zum anderen, weil alles aufzuschrei- 
ben den Rahmen dieser Dokumenta- 
tion gesprengt hatte. Wir bitten all 
jene, die sich iibergangen fiihlen, hier- 
fiir um Entschuldigung. An Erganzun- 
gen und Meinungsaufierungen sind 
wir jedoch interessiert. Es versteht 
sich von selbst, daB Zitate und Doku- 
mente nicht in jedem Fall die Meinung 
der Verfasser wiederspiegeln. 

Kathrin Walther, 7050 Leipzig, 

MeiBnerStr. 31 

Thomas Rudolph, 7050 Leipzig, 

MeiBnerStr. 31 

Frank Richter, 7050 Leipzig, 

Michael- Kazmierczak-StraBe 18 

Leipzig, Marz 1989 



Konventionen ausrichten miiBte. Der 
Brief fand weite Zustimmung und 
wurde im Februar, Marz und April von 
etwa 5 000 Antragstellern in der gan- 
zen DDR abgeschickt. In der Folge des 
Abends bildet sich neben dem schon 
bestehenden Gesprachskreis von 
Ausreise-Antragstellerlnnen um 

Jugendpfarrer Kaden ein weiterer um 
Pfarrer Fiihrer. 

27. 2. '88 

Wahrend des Basisgruppentreffens 
„Frieden konkret VI" vom 26. bis 28. 2. 
in Cottbus vjeiden gegen I6.00 Uhr 
nach einer AusweiskontroUe Brigitte 
Moritz (AG Friedensdienst) und Rai- 
ner Miiller (Umweltgruppe Borna) 
durch die Dt. Volkspolizei zugefiihrt. 
Nach der Beschlagnahme ihrer 



I.- DDR 



Tagungspapiere werden sie zu Inhalt 
und Zielsetzungen dieses kirchlichen 
Seminars befragt, wrobei Rsiiner Miiller 
auch korperlich hart bedrangt wird. 

28. 2. '88 

In der Reformierten Kirche findet 
eine Graphikauktion statt. Der Erlos 
von 1 5 000 Mark ist in 3 gleichen Tei- 
len fiir die Okumenische Versamm- 
lung, die Arbeit von Basisgruppen und 
als Hilfsfonds fiir „in Bedrangnis gera- 
tene Basisgruppenmitarbeiterlnnen " 
bestimmt. 

29. 2. '88/ 1.3. '88 

Die Mitarbeiter des » Arbeitskreises 
Gerechtigkeitn, Frank Wolfgang Sonn- 
tag und Dr. Michael Kunze, werden 
inhaftiert. Ihnen wird die Erarbeitung 
und Verteilung der obengenannten 
Eingabe vorgeworfen. In diesem 
Zusammenhang werden auch der Mit- 
arbeiter des iiArbeitskreises Gerech- 
tigkeitH, Dr. Steffen Kind, und einige 
Antragstellerlnnen des Gesprachs- 
kreises um Jugendpfarrer Kaden 
zugefiihrt. Sie aUe und viele Tausend 
Antragstellerlnnen sowie einige 
wenige Basisgruppenmitarbeiterln- 
nen in der ganzen DDR sollen in den 
folgenden Monateri nach Zufiihrung 
Oder Vorladungen eine Belehrung 
unterschreiben, die ihnen die Mitar- 
beit an kirchlichen Veranstaltungen 
untersagt. 

10.3. '88 

Aufgrund von Verhandlungen des 
Landeskirchenamtes Sachsen mit 
staatlichen Vertretern, von Anfragen 
des norwegischen AuBeruniniste- 
riums, des SPD-Vorsitzenden W. 
Brandt, der stadtischen Solidaritat 
und der Einsicht staatlicher Organe 
werden Herr Sonntag und Herr Dr. 
Kunze aus der Untersuchungshaft 
entlassen. Ihre Ermittlungsverfahren 
nach §214 Abs. 1 + 3 laufen jedoch 
noch bis zu ihrer Einstellung am 5. 
April weiter. 

14. 3. (Messemontag) 

Nach dem seit 1981 stattfindenden 
montaglichen Friedensgebet in der 
Nikolaikirche kommt es zu einer 
Demonstration von etwa 300 Antrag- 
stellern und Basisgruppenmitarbeite- 
rlnnen. Sie gehen von der Nikolaikir- 
che durch die Innenstadt zur Thoraas- 
kirche und wieder zuriick. Auf dem 
Ruckweg fahren einige Tomwagen 
der Polizei durch den Demonstrations- 
zug hindurch und fordern die Demon- 
stranten auf, sich zu zerstreuen. Dar- 
aufhin lost sich der Demonstrations- 
zug auf. Einige wenige gehen weiter 
Richtung Sachsenplatz, von dort wer- 
den einige von ihnen zugefiihrt. 

29.3. 

Der Bezirkssynodalausschun fiir 
Frieden und Gerechtigkeit der 
Bezirkssynode Leipzig Ost, in dem 
auch je ein/e Vertreter/in jeder Leipzi- 
ger Basisgruppe sitzt, beschlieflt auf 
Antrag Superintendent Magirius': 



„Die Gruppen sollen in den nachsten 
Fhedensgebeten, die den Rahman 
einer Groflveranstaltung angenom- 
men haben, die Begleitung eines ver- 
antwortlichen Pfaners suchen und 
aJczeptieren. " Damit wird die seit 1983 
bestehende Prajcis der eigenverant- 
wortlichen Gestaltung der Friedens- 
gebete durch Laien und Basisgruppen 
beendet. Von den Basisgruppen, die 
den BeschluB mittragen, wird er aUge- 
mein als „Zensurbeschlufl" gewertet. 
Am 17. Juni beschlieBt der Bezirkssyn- 
odalausschun die Verlangerung die- 
ser Regelung bis 31 . Oktober. 

Ende April/ 1.5. 

Aktivisten verschiedener Gruppen 
(darunter Mitarbeiterlnnen des 
"Arbeitskreises Gerechtigkeit« und 
der »Initiativgruppe Leben«) werden 
intensiv beschattet. Vor einigen Woh- 
nungen sind bis zu einem Dutzend 
MfS-Mitarbeiter im Einsatz. Die 
Staatssicherheit befiirchtet eine 
eigenstandige Teilnahme an den 
staatlichen Maiaufziigen. 

1.5. 

Rainer Miiller und 3 seiner Freunde 
versuchen in Borna (ohne Plakat!) an 
den offiziellen Maifeierlichkeiten teil- 
zunehmen. Sie werden nach 100 m 
von MfS-Mitarbeitern aus dem 
Maiaufzug entfernt. 

28.5. 

Auf dem ersten Leipziger Tag zum 
Konziliaren ProzeB, der in der Prob- 
steikirche stattfindet, wird iiber die 
Themen der Okumenischen Ver- 
sammlung gesprochen. 

Ende Mai 

Biirgerlnnen Leipzigs finden in 
ihren Briefkasten Oder lesen an Litfafi- 
saulen folgenden Aufruf: (zum 5. Juni 
1988 - Weltumwelttag - PleiBege- 
denkumzug: in >iOst-West-Diskus- 
sionsforumw Nr. 4, Seite 4 ff.) 

1.6. 

Uwe Schwabe von der iilnitiativ- 
gruppe Lebenn wird zugefiihrt. 7 
Stunden lang wird er zum am Weltum- 
welttag stattfindenden 1. PleiBe- 
Gedenkumzug befragt. 

3.6. 

Roland Quester, der einer Vorla- 
dung fur den 2. Juni nicht nachgekom- 
men war, wird zugefiihrt und zum sel- 
ben Thema befragt. 

5.6. 

Unter aktiver Teilnahme von Mitar- 
beiterlnnen der iilnitiativgruppe 
Leben((, des »Arbeitskreises Gerech- 
tigkeitH und des uArbeitskreises Soli- 
darische Kirche «-Regionalgruppe 

Leipzig, nehmen 230 Burgerlnnen 
Leipzigs am 1. PleiBe-Gedenkumzug 
teil. Der Gedenkmarsch war keine 
kirchliche Veranstaltung, sondern 
wurde von Staatsbiirgerlnnen in ihrer 
Verantwortung fiir die Umwelt durch- 
gefiihrt. Er fiihrte von der TeichstraBe 
auf einem zweistiindigen Weg durch 



DIE 



MUCKE 






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den Clara-Zetkin-Park Richtung 
Innenstadt. Es gibt keine Behinderun- 
gen durch die staatUchen Organe (s. 
"Umweltblaettera 10/88; iiStreiflich- 
ter« Juni 1988). (Den Bericht aus den 
i>Umweltblaetter« 10/88 siehe in 
))Ost-West-Diskussionsforum« Nr.4, 
S.4 ff.) 

11.6. 

Die fiir diesen Tag geplante 1. Leip- 
ziger Zukunftswerkstatt wird bereits 
einige Wochen vorher abgesagt, da 
die Superintendenten Richter und 
Magirius es ablehnen, die Verantwor- 
tung zu libernehmen. 

12.6. 

An der Wallfahrt zum 6. Umweltgot- 
tesdienst in Deutzen unter dem The- 
ma „Unsere Zukunft hat schon begon- 
nen" woUen Mitarbeiterlnnen des 
IiArbeitskreises Gerechtigkeit « mit 
Spruchbandern gegen Kernkraftwer- 
ke und fiir „mehrFreiheit fiirDruckge- 
nehmigungen" teUnehmen. Vom Kir- 
chenvorstand Deutzen und einigen 
Pfarrern werden sie aus dem sich for- 
mierenden Zug herausgeholt und 
intensiv gebeten (eingeschlossen von 
einer Doppelreihe Kirchenvorstands- 
mitgliedern und Pfarrern), diese Wall- 
fahrt „nicht zu miBbrauchen". 

Originalton Pfarrer...: „Machen Sie 
doch ihre eigene Demonstration an 
einem anderen Ort. " Die Basisgrup- 
pen der DDR waren eingeladen, nun 
wird eine von ihnen ausgeladen. Die 
Gruppe verzichtet dann auf eine Teil- 
nahme, wahrend Mitarbeiter der 
AGM mit Plakaten an der Wallfahrt 
teilnehmen. 

27.6. 

Die Initiativgruppe Leben gestaltet 
unter Leitung von Pfarrer Christoph 
Wonneberger das letzte Friedensge- 



>iOst-West-Diskussionsforuni« Nr. 6 



April 1989 



bet vor der Sommerpause. Als konkre- 
te Fiirbitte wird in ihm fiir Herm TaHig 
Geld gesammelt, da er aufgrund des 
Anbringens von Losungen in der 
Unterfvihrung am Leuschnerplatz (im 
Zusammenhang der Januar-Ereignis- 
se) mehrere tausend Mark Strafe und 
Schadensersatz zu zahlen hatte. Der 
anwesende SuperintendentensteU- 
vertreter Wugk distanzierte sich noch 
im Friedensgebet von dieser „konkre- 
ten Fiirbitte", da sie eine „iUegaJe 
SammJung" sei. Diese Distanzierung 
steUt einen Ubergriff auf die ausge- 
handelte Friedensgebetspraxis dar, 
da die Fiirbitte in der Verantwortung 
Pfarrer Wonnebergers lag. Diese kon- 
krete Fiirbitte v^rurde unter anderem 
zum AnlaB fvir die folgende Auseinan- 
dersetzung um das Friedensgebet 
genommen. 



Demonstration von Aiisreisewilligen wahrend 
der Leipziger Messe 






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8.8. 

Die ninitiativgruppe Lebenn, die 
>iArbeitsgruppe Menschenrechte", 
die »Arbeitsgruppe UmweltschutZK 
und der »Arbeitskreis Gerechtigkeit« 
gestalten in der MichaeUskirche ein 
Gedenkgebet iiber die Gefahren der 
Nutzung von Kernenergie. 

22.8. 

Die Vertreterlnnen der Basisgrup- 
penimBezirkssynodalausschui5 i)Frie- 
den und Gerechtigkeit« erhalten 
einen auf den 15. August datierten 
Brief von Superintendent Magirius. In 
ihm heifit es unter anderem: 

„Die Wikolaikirchengemeinde iiber- 
nimmt nach der Sommerpause Durch- 
fiihrung und Verkiindigung der Frie- 
densgebete seibst. Die meisten Teil- 
nehmer sind an den Zusammenkunf- 
ten nicht interessiert und engagiert an 
den Fiagen iFheden-Gerechtigkeit- 
Bewahrung der Schopfungi im Sinne 
des konzUiaien Prozesses, sondern 
erwarten von der Kirche, daB diese 
sich fiir ihre Piobleme einsetzt. " 

Herr Magirius ordnet (in Absprache 
mit dem Pfarramtsleiter St. Nikolai-St. 
Johannis, Pfarrer Fiihrer), ohne daB es 
einen Kirchenvorstandsbeschlufl von 
St. Nikolai-St. Johannis gibt, ohne sich 
mit den Basisgruppen beraten zu 
haben, ohne den Beschlufl des 
Bezirkssynodalausschusses zu beach- 
ten (er gait bis zum 31. Oktober) an, 
daB die Basisgruppen von der Gestal- 
tung der Friedensgebete ausge- 
schlossen werden. 

25.8. 

13 Mitarbeiterlnnen der ulnitiativ- 
gruppe Leben«, des nArbeitskreises 
Gerechtigkeitd, der »AktionSiihnezei- 
chen«, des iiArbeitskreises Solida- 
rische Kirche «-Regionalgruppe Leip- 
zig und der »Arbeitsgruppe Umwelt- 
schutZK richten eine Protesterklarung 
an Superintendent Magirius. In ihr 
heiBt es: 

„...Sie grenzen uns aus mit der 
Begriindung, daB wir aJs Gemeinde 

10 



■'^;-'^^^- *■■ ^^^-^ ■ " ■> - ':■■-, 



)...an den Fragen Frieden, Gerechtig- 
keit, Bewahrung der Schopfung im 
Sinne des konziliaren Prozesses nicht 
interessiert und engagiert sind...( 

Gegen diese Verfahrensweise pro- 
testieren wir. 

Allen Gruppen jst ein tiefes und ehr- 
liches Interesse an den Friedensgebe- 
ten Selbstverstandnis. Unser Anlie- 
gen ist es, in den Gebeten unseren 
Problemen, unseren Erwartungen an 
die DDR-Gesellschaft, wie auch unse- 
rer Stellung zu gJobalen ProbJemen, - 
die im konziliaren ProzeB zusammen- 
gefaBt sind -, Ausdruck zu verJeihen. 
Dies mdchten wir mit unserer eigenen 
Sprache, unseren eigenen Gedanken, 
der Vielfalt unserer Meinungen, der 
Erschiitterung und Besorgtheit tun 
und das seibstverstandJich in der uns 
eigenen Claubensform. 

Die in den Jetzten Monaten vorwie- 
gend durch Ausreiseantragsteller ver- 
groBerte Gemeinde stellt in den 
Augen der Staatsorgane (fiir wen 
auch immer) eine potentielle Gefahr 
dar. Mit der beabsichtigten Ausgren- 
zung der AntragstelJer stellen Sie sich 
auf die Seite derer, die dieser Gemein- 
de ein ehrliches Interesse an Inhalt 
und Botschaft dieser Gottesdienste 
absprechen. Die Gemeinde nimmt 
aber diszipJiniert und aufmerksam an 
den Gottesdiensten teiJ und wachst 
mit ihnen. 

Ihr Urteil iiber idie meisten Teilneh- 
men ist eine Diffamierung! 

Mit Befremden steJJen wir fest, daB 
die versammeJten TeiJnehmer von 
Ihnen nicht als Gemeinde Christi 
angenommen werden. 

Wir fordern: 

- Offenlegung der tatsachlicheri 
Hintergriinde Ihrer uns unverstandJi- 



chen Entscheidung, 

— Wiederhersteilung der Moglich- 
keit fiir die Leipziger kircMchen 
Basisgruppen, die Friedensgebete in 
Eigenverantwortung (unzensiert) zu 
gestalten. " 

29.8. 

Trotz intensiver Bitten verweigern 
Superintendent Magirius und Pfarrer 
Fiihrer das Verlesen der Protesterkla- 
rung und eine Diskussion iiber beide 
Texte mit der Gemeinde des Friedens- 
gebetes. Daraufhin entschlieBen sich 
einige Basisgruppenmitarbeiterln- 
nen, die Diskussion nach dem Frie- 
densgebet auch ohne Genehmigung 
durchzufiihren. Es kommt zu Tumul- 
ten. Wahrend ein Basisgruppenmitar- 
beiter die Texte verhest, stellt sich 
Pfarrer Fiihrer auf eine Bank und sagt 
unter anderem: 

„Das sind keine Leute von uns 
fgemeint ist der BriefverJeser / der 
Verfasser). Wenn Sie hier weiter bJei- 
ben, arbeiten wir nur dem Staat in die 
Hande, der das Friedensgebet je eher, 
je lieber, aufhoren lassen w^ill. " 

AnschlieBend unterzeichneten 200 
Friedensgebetteilnehmerlnnen die 
Protesterklarung der Basisgruppen- 
mitarbeiterlnnen. 

Spater werden gegen die Theologie- 
studenten Jochen LaBig und Thomas 
Rudolph (beide Mitarbeiter des 
"Arbeitskreises Gerechtigkeit«) 

wegen ihrer TeOnahme an dieser 
Aktion vom Theologischen Seminar, 
einer kirchlichen Ausbildungsstatte, 
Disziplinarstrafen verhangt. 

Noch am Abend des 29. 8. 
beschliefit der Kirchenvorstand von 
St. Nikolai-St. Johannis, was auf 
Anordnung Superintendent Magirius' 



I.- DDR 



(in Absprache mit Pfr. Fiihrer) nun 
schon Friedensgebetspraxis ist. 

1.9. 

Thomas Rudolph vom » Arbeitskreis 
GerechtigkeitK wird zum Leiter der 
Volkspohzei des Bezirkes vorgeladen, 
well er zu einer Fahrradkette von der 
Innenstadt zum Messegelande am 4. 
9. aufgerufen haben soil. Dies war 
nicht der Fall. Die Staatssicherheit 
hatte sich geirrt. 

4.9. 

Am Tag der Messeeroffnung fahren 
etwa 50 Fahrradfahrerlnnen von der 
Innenstadt am Messegelande (auf 
dem sich der Staatsratsvorsitzende 
Erich Honecker und die Politpromi- 
nenz aus Ost und West befindet) vor- 
bei ins Griine. Ihre Fahrt sollte Zei- 
chen fiir eine Solidargemeinschaft all 
derer sein, die fiir mehr individuelle 
Rechte eintreten. Einige der Teilneh- 
merlnnen werden spater „ zwecks Kla- 
.ung eines Sachverhaltes" vorgela- 
den. 

5. 9. (Messemontag) 

Vor dem Beginn des Friedensgebe- 
tes v^erden in der Nikolaikirche unter 
dem Titel „Die Kirche" die Dokumente 
des staatlichen und kirchlichen 
Dienstweges der Erklarung des Polit- 
biiromitgliedes Dr. W. Jarowinsky an 
Dr. W. Leich vom 19. 2. 1988 und ein 
Offener Brief an den Landesbischof 
Dr. J. Hempel iiber die Vorgange um 
das Friedensgebet verteilt. Im 
Anschlufi an das Friedensgebet wird 



auf dem Nikolaikirchhof folgende 
Erklarung verlesen: 

„Wir, d.h. einige Mitglieder der 
Leipziger kirchlichen Basisgnippen 
Gerechtigkeit, Initiative Leben und 
Solidarische Kirche, machen heute 
noch einmaJ den Versuch, uns an die 
Offentlichkeit zu wenden. Bisher hat- 
ten wii die Mdglichkeit, das in der Kir- 
che zu tun. Vor zwei Wochen w^urde 
uns die Sprecherlaubnis durch die 
VerantwortJichen entzogen. Entge- 
gen den offentlichen Beteuerungen 
des Superintendenten und des Pfar- 
rers dieser Kirche, dai3 ihre Entschei- 
dung allein vor ihrem Ge'wissen und 
vor Gott getroffen ist, wissen vi^ir, daB 
massiver auBerer Druck zur Abset- 
zung des Friedensgebetes der Grup- 
pen gefiihrt hat. In den Gebeten sind 
after Stimmen laut gev\forden, die hier 
im Land nicht an die Offentlichkeit 
diirfen: Unzufriedenheit mit Kirche 
und Staat - Protest gegen Unterdriik- 
kung - Aufruf zur Sohdaritat. Damit 
soIJ jetzt Schlu/3 sein ! 

Wir empfinden die Vorgange um die 
Absetzung dieser kirchlichen Veran- 
staltung als skandalds; 

- zum einen, weiJ hier Entscheidun- 
gen von Leuten beeinflulit werden, 
die iiber das, was in einer Kirche pas- 
siert, nichts zu befinden haben, Leute, 
die sowohJ national aJs auch interna- 
tional das Recht der freien Rehgions- 
ausubung fiir ihr Land aJs verwirkJicht 
erkJaren ; 

- zum anderen, weii die kirchlichen 
Vertreter die Verschieierung der tat- 



sachiichen Sachverhalte mitbetrei- 
ben, indem sie ihr eigenes Reden und 
das Reden anderer nach der politi- 
schen GefaUigkeit zensieren. 

Wenn diese Haltung in der Kirche 
zur Regel wird, sehen wir die GJaub- 
wtirdigkeit dieser Institution gefahr- 
det. Wir sehen uns als Christen und 
als Leute, die die Wahrheit lieben, ver- 
pflichtet, hier zu protestieren. Wir 
rufen alle VerantwortUchen dazu auf, 
die wahren Hintergriinde ihrer Ent- 
scheidungen offenzuiegen und 
wenigstens in ihren Raumen das 
Recht der freien Meinungsau/3erung 
aufrechtzuerhaJten. Wir bitten um 
Solidaritat alier, die so empfinden wie 
wir. Wir bitten all jene, denen die Frei- 
heit der Kirche und die Freiheit der 
MeinungsauBerung in diesem Land 
am Herzen liegen, sich zu Wort zu meJ- 
den. " 

Spater verfassen auch die »Arbeits- 
gruppe Menschenrechte«, die ))Frie- 
densgebetsgemeinde«, der 

Gesprachskreis um Pfarrer Kaden und 
die iiArbeitsgruppe Umweltschutz« 
Protestschreiben wegen der Ausgren- 
zung der Basisgruppen vom Friedens- 
gebet. 

Nach dem Friedensgebet versuch- 
ten etwa 200 Antragstellerlnnen eine 
Menschenkette zu bilden und gingen 
Richtung Markt. Dort loste sich die 
Menschenkette nach dem Eingreifen 
von Staatssicherheitskraften in ZivU 
auf. 

(Fortsetzung folgt) 



Die neue Reiseverordnung 



leisen fur Burger der DDR 
nach dem Ausland 

Nun ist sie da, die neue Reiseregelung fiir DDR-Biirger. 
Erwartet und gefordert wurde eine gesetzliche Bestim- 
mung, die der BehordenwOlkiir ein Ende bereitet. Auch 
die Verfassung der DDR spricht von einer Gleichheit der 
Biirger vor dem Gesetz: 

„ Jeder Biirger der Deutschen Demokratischen Repu- 
blik hat unabhangig von seiner Nationalitat, seiner Ras- 
se, seinem weltanschaulichen oder rehgiosen Bekennt- 
nis, seiner sozialen Herkunft und SteJiung die gleichen 
Rechte und Pflichten. Gev^issens- und Glaubensfreiheit 
sind gewahrleistet. Alle Burger sind vor dem Gesetz 
gleich." (Verfassung der DDR, Artikel 20, Absatz 1). 

Die Reiseverordnung fiir Burger der DDR nach dem 
Ausland verletzt diese Verfassungsvorschrift. Zwar ist 
hiernach jeder DDR-Biirger berechtigt, ins Ausland zu 
reisen. Fiir Reisen in die traditionellen Bruderstaaten 
miissen keine besonderen Reisegriinde vorliegen (§ 6 
der Verordnung iiber Reisen von DDR-Biirgern nach dem 
Ausland). Reisen in andere Staaten allerdings sind in 
jedem Fall beantragungspflichtig. Sie werden als Dienst- 
, Touristik- und Privatreisen unterschieden. Da Dienst- 
und Touristikreisen einen eigenen organisatorischen 



Rahmen haben und der Selbstbestimmung enge Gren- 
zen setzen, sind besonders die Regelungen iiber die Pri- 
vatreisen von Bedeutung (§§ 7-9 der VO iiber Reisen). 

An Privatreisen werden nun besondere Voraussetzun- 
gen gebunden, die tatsachlich nicht mehr der Verfas- 
sungsvorschrift von der Gleichheit der Biirger vor dem 
Gesetz ^eniigen. Ungleich vor dem Gesetz werden jetzt 
Biirger in § 7 definiert durch: 

— ihre Auslandsverwandtschaft 

— die Anzahl der Auslandsverwandten 

— besonders festgelegte FamUienereignisse im Aus- 
land 

— durch Alter und Invaliditat. 

Hinzu kommen geschlechtsspezifische Unterschei- 
dungen. Manner, die noch keinen Wehrdienst geleistet 
haben, diirfen erst ab dem 26. Lebensjahr (§ 13 (2)), 
Frauen ab 18 Jahre Verwandtenreisen beantragen. Kin- 
der und Jugendliche der DDR sind gar nicht erst auf der 
Berechtigungsliste gefiihrt (§ 7 (4)). 

Die Versagungsgriinde fiir Reisen ins Ausland sind 
eine weitere Einschrankung der Rechte der Biirger. 
Dabei sind besonders die Versagungsgriinde aus politi- 
schen Griinden problematisch, wreil in ihnen ein Ermes- 
sensspielraum eingeraumt ist, der die Anwendung der 
Verordnung ins Belieben staatlichen Pragmatismus 
stellt. Die DDR setzt mit dieser Reiseverordnung eine 
(Fortsetzung nachste Seite} .• .•